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Auf seiner neuen CD präsentiert das Duo d’Accord aufs Neue musikalische Raritäten:
neben Messiaens spirituell motivierte Visions de l’Amen stellt es Beethovens rätselhaftes kontrapunktisches Meisterwerk, die Große Fuge, in Beethovens eigener Bearbeitung für Klavier zu vier Händen. Das Manuskript der Großen Fuge in der Fassung für Klavier vierhändig wurde erst im Jahr 2005 entdeckt. Beethovens Verleger hatte es 1827 unter der Opuszahl 134 veröffentlicht. Ursprünglich war das Werk als Schlusssatz für das Streichquartett B-Dur op. 130 komponiert, und es wurde auch in dieser Form vom Schuppanzigh- Quartett uraufgeführt, doch der Verleger Mathias Artaria schlug Beethoven vor, das Werk auszukoppeln (veröffentlicht als op. 133) und anstelle dessen einen neuen Finalsatz zu komponieren. Beethoven ging hierauf ein, ebenso auf den Vorschlag, eine Klavier-vierhändig-Fassung herzustellen.

Olivier Messiaen
Visions de l’Amen für zwei Klaviere

„Amen“ umfasst vier verschiedene Bedeutungen:
1. Amen, so sei es! Der Schöpfungsakt.
2. Amen, ich unterwerfe mich, ich nehme an. Dein Wille geschehe!
3. Amen, der Wunsch, die Sehnsucht, dass es so geschehen möge; dass du dich mir hingibst, so wie ich mich dir hingebe.
4. Amen, es ist. Alles ist für immer vorherbestimmt und erfüllt sich im Paradies.
Indem ich das Leben der Kreaturen hinzugenommen habe, die durch ihre bloße Existenz „Amen“ sagen, wollte ich den ganzen Reichtum des Amen in sieben musikalischen Visionen zum Ausdruck bringen.

I. Amen der Schöpfung
Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Über einem doppelten Glockenspiel-Ostinato des ersten Klaviers intoniert das zweite Klavier das Thema der Schöpfung, das Hauptthema des Werkes. Das gesamte Stück ist ein Crescendo, ausgehend vom absoluten Pianissimo jenes Urnebels, in dem bereits die Kraft des Lichts enthalten ist. Alle Glocken erzittern in diesem Licht und also im Leben.

II. Amen der Sterne und des Planeten mit dem Ring
Brutaler und wilder Tanz der Planeten. Die Sterne, die Sonnen und der Saturn drehen sich in entfesseltem Taumel. Gott ruft sie, und sie antworten: Amen, hier sind wir! Alle verschiedenen Bewegungen spiegeln das Leben der Planeten wider und den wunderbaren Regenbogen, der den um den Saturn kreisenden Ring erstrahlen lässt.

III. Amen des Todeskampfes Jesu
Jesus leidet und weint. Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Er nimmt sein Schicksal an – so geschehe es, Amen. Drei musikalische Gedanken: erstens der Fluch des Vaters über die Sünden der Welt, zweitens ein Aufschrei, drittens eine herzzerreißende Klage. Das Leiden Christi bringt den Menschen Vergebung und Erneuerung. Ein unaussprechliches Leiden, von dem Blut und Schweiß nur einen vagen Begriff geben können.

IV. Amen der Sehnsucht
Das Wort „Sehnsucht“ muss hier in seiner höchsten spirituellen Bedeutung verstanden werden. Es gibt zwei Themen der Sehnsucht: das erste langsam und von tiefer Zärtlichkeit geprägt: schon der friedvolle Duft des Paradieses. Das zweite ist sehr viel ungestümer: die Seele ist von einer schrecklichen Liebe erfüllt, die sich bis zum ekstatischen Ausbruch steigert. In der Coda scheinen die beiden Hauptstimmen miteinander zu verschmelzen, und nichts bleibt zurück als die harmonische Stille des Himmels.

V. Amen der Engel, der Heiligen, des Vogelgesanges
Gesang der Reinheit der Heiligen: Amen. Die jubelnde Vokalise der Vögel: Amen. Die Engel fielen vor dem Throne nieder: Amen. Zunächst der Gesang der Engel und Heiligen: ganz auf das Wesentliche konzentriert und sehr rein. Dann ein Mittelteil auf der Grundlage der Vogelstimmen, in dem sich ein brillanter Klaviersatz entfalten kann. Dann eine veränderte Reprise des Gesangs der Engel und Heiligen, mit einem nicht umkehrbaren rhythmischen Kanon auf drei Ebenen.

VI. Amen des Jüngsten Gerichts
Drei eisige Töne wie die Glocken der Klarheit. Wahrlich, ich sage euch: Amen. Weichet von mir, ihr Verdammten! Ein absichtlich kurzes und schroffes Stück.

VII. Amen der Erfüllung
Das Leben der verklärten Leiber in einem Glockenspiel des Lichts, von Klarheit zu Klarheit, Amen. Der ganze Regenbogen der Edelsteine der Apokalypse, die klingen, aneinanderstoßen, tanzen und das Licht des Lebens in ihren Duft tauchen.

(gekürzte Fassung des Vorworts in der Partitur von Messiaen, mit freundlicher Genehmigung von Editions Durand Paris)



Ludwig van Beethoven
Große Fuge op. 134 für Klavier zu vier Händen

Über die Große Fuge und ihren singulären Status in der Musikgeschichte wurde schon viel gesagt und geschrieben. Als das wohl am schwersten zu fassende Werk Beethovens unter dem Motto tantôt libre, tantôt recherchée (so frei wie kunstvoll) war sie Gegenstand transzendentaler Betrachtungen wie der des Schönberg-Schülers Erwin Ratz: „In ihr ist der Gegensatz, in dem das Ich zur Welt zunächst steht, überwunden; das Ich erlebt nunmehr in sich das Walten jener geistig-göttlichen Kräfte, die auch in der gesamten sichtbaren und unsichtbaren Welt wirksam sind“. Dem greisen Igor Strawinsky erschien sie gar als „das perfekteste Wunder der Musik“.

Der Weg zur Erleuchtung ist allerdings auch in diesem Falle mühsam: bei der Uraufführung der Großen Fuge durch das Schuppanzigh- Quartett am 21. März 1826, damals noch als Finale des B-Dur-Streichquartetts op. 130, reagierte das Publikum mit Verstörung auf das neue Werk, die Kritik sprach von „babylonischer Verwirrung“ und die vier Musiker waren unglücklich, dass sie die extremen Anforderungen der Fuge nicht erfüllen konnten. Schließlich schrieb Beethoven einen neuen Schlusssatz. Gleichzeitig koppelte er die Fuge als Einzelstück aus (op. 133) und verfasste außerdem die vorliegende Adaption für Klavier zu vier Händen mit der Opuszahl 134, deren Manuskript übrigens erstaunlicherweise erst im Juli 2005 von einer Bibliothekarin beim Abstauben entdeckt wurde.

Beethoven hat es also der Mühe wert befunden, sein avantgardistischstes Werk in zwei verschiedene Fassungen mit je einer eigenen Opuszahl zu kleiden. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Notenmaterial identisch, und dennoch erscheint in opus 134 vieles neu: das Klangbild ist wesentlich kompakter, gerade die Forte- und Fortissimo-Passagen erlangen durch erstarkte Bässe mehr Raum, die Unmittelbarkeit des Klavieranschlags formt viele rhythmisch vertrackte Passagen noch präziser. Verloren geht nichts in dieser Transkription, auch nicht die hineinkomponierte, fast körperlich spürbare Anstrengung der ausführenden Spieler als Sprachrohr des späten Beethoven in seinem tief existentialistischem Ringen um die musikalische Schöpfung. Zusätzlich gewinnt die differenzierte Kontrapunktik der vier Einzelstimmen einiges an vertikaler Verbindung, ausbalancierter Harmonik und klanglicher Reinheit hinzu.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Beethoven sich einige Zeit mit der Idee getragen hat, das gesamte op. 130 für Klavierduo umzuschreiben. Wir wissen nicht genau, inwieweit das Drängen seines Verlegers Artaria oder eventuelle finanzielle Überlegungen dabei eine Rolle gespielt haben, dennoch zeigt dieser Gedanke einen wichtigen Wesenszug aller in Beethovens letzten Lebensjahren entstandenen Werke auf: seine Musik hat sich vom Medium ihrer Ausführung losgelöst. Beethovens Geist waltet im Absoluten – so frei wie kunstvoll.

Henri Ducard