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Poetische Gebilde
Bach im Spiegel der deutschen Romantiker

Erst lange nach seinem Tod sollte Johann Sebastian Bach den singulären Rang einnehmen, den er heute in der öffentlichen Wahrnehmung innehat. Zu Lebzeiten war er zwar durchaus als Cembalo- und Orgelvirtuose sowie als genialer Improvisator bekannt, doch erst nachdem Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion eine Bach-Renaissance sondergleichen eingeläutet hatte, entwickelte sich Bachs Nimbus als Meister aller Komponisten, der ihn für die Musikwelt des 19. Jahrhunderts neben Beethoven zum ebenfalls unerreichbaren Vorbild stilisierte.

Unermüdlich studierten nun Komponisten seine Musik, allen voran das Wohltemperierte Klavier, das „Buch der Bücher“ - sowohl als Bibel kontrapunktischer Architektonik, vor allem aber, weil sie sich davon versprachen, durch die Beherrschung jener Kunst in bisher unerreichte musikalische Dimensionen vordringen zu können. So erschienen Bachs Klavierfugen Schumann und vielen anderen nicht als durchstrukturierte logische Schichtungen, sondern als „Charakterstücke höchster Art, zum Teil wahrhaftig poetische Gebilde, deren jedes seinen eigenen Ausdruck, seine besonderen Lichter und Schatten verlangt“.1

Bach, der Poet? Das klingt in unseren Zeiten unwirklich und nostalgisch verbrämt. Wie könnte es auch anders sein, denn zwischen diesen Worten Schumanns und der Gegenwart liegen fast zwei Jahrhunderte, in denen sich eine umfassende interpretatorische Exegese konstituierte, deren Entdeckungen und Prinzipien aus der heutigen Bachrezeption nicht mehr wegzudenken sind - allen voran das intensive Bemühen um Werktreue und stilistisch „richtige“ Interpretation wie überhaupt ein umfassendes Wissen um die barocke Aufführungspraxis.

Aus dieser Perspektive muß das vorliegende Album fast anachronistisch erscheinen, trägt seine Musik uns doch zurück in eine Epoche, in der Bach mit freier, manchmal geradezu unbekümmerter Stilistik gespielt wurde. Was man sich heute nicht erlauben darf, war damals modern: Sinn für theatralische Effekte, überbordende dynamische Fülle und eine ziemlich elastische Wahrnehmung des metrischen Elements – wie es dem romantischen Lebensgefühl nun einmal entsprach.

Soviel also zur geistigen Grundlage, auf der Moscheles die Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier mit einem concertierendem zweiten Klavier op. 137b verfaßte und darin Bachs Original mit zeitgenössischer Musik des Jahres 1861 kombinierte. Ein Amalgam aus zwei völlig verschiedenen musikalischen Welten also, das – obwohl in dezent pädagogischer Formulierung als Melodisch-contrapunctische Studien veröffentlicht – unter den Zeitgenossen durchaus Ablehnung hervorrief. Moscheles war sich sehr wohl bewußt, an welch heiligen Säulen er hier rüttelte, weshalb er von Anfang an stets betonte, es wäre nie seine Absicht gewesen, Bach zu korrigieren oder gar zu verbessern. Im Vorwort zu op. 137 betont er, Bachs Fugen seien sowieso sakrosankt, ihm gehe es lediglich darum, die Präludien bekannter machen zu wollen. Dabei beruft er sich auf Mendelssohn und Schumann, die ebenfalls Bachsche Solowerke für Violine bzw. Cello mit einem Klavierpart erweitert2 und dadurch „diesen Tonbildern einen Rahmen gegeben haben, dessen Goldesschimmer den Effect derselben erhöht; und so wage auch ich, den Preludien durch meine hinzu komponirte concertirende Stimme eine neue Charakteristik zu verleihen“.

Hinter diesem politisch korrektem Timbre steckt allerdings ein kompositorischer Anspruch, dessen Qualität keiner Rechtfertigung bedarf. Moscheles begreift Bachs Präludien als Experimentierlabor; er geht damit ohne Berührungsängste um und vereinigt die beiden Parts in jedem Präludium zu einem neuen kreativen Klavierklang. Deswegen erscheint diese Fassung auch dreidimensionaler, dem subjektiven Hörer wohl sogar provokanter als seine gleichzeitig herausgegebene Version für Violoncello und Klavier op. 137a.

Abwechslungsreich kombiniert er virtuose Nummern, die sich in pianistischem Sturm und Drang austoben (c-moll, d-moll Band II), mit behutsamen Umrankungen der Bach-Stimme (Es-Dur, cis-moll); er belebt die Musik durch den Kontrast der beiden Klavierparts (G-Dur, d-moll Band I) beziehungsweise durch ihr quirlig-harmonisches Miteinander (C-Dur, D-Dur). Vom Notentext ist nur das h-moll-Präludium komplett mit Bachs Original identisch, dafür allerdings mit gleich zwei verschiedenen Bearbeitungen vertreten. Ansonsten fügt Moscheles gelegentlich mit leichter Hand Wiederholungen und Querverbindungen ein, er ändert Harmonien und komponiert zum Teil gleich ganze Abschnitte neu. In diesem Sinne ist der Bach-Part konsequenterweise dann auch zu spielen, was uns heutigen Interpreten ungewohnte Freiheiten gestattet in Sachen Tempo, Rubato und dynamisch-harmonischer Schattierung.

Ähnlich und doch ganz anders verhält es sich mit den Variationen über eine Sarabande von Bach op. 24, die Carl Reinecke 1849 komponierte. Zwar werden auch hier barocke und romantische Elemente kombiniert, Bachs Sarabande3 bildet dabei aber lediglich den Ausgangspunkt: sie legt die Atmosphäre fest, rückt dann aber sofort in weite musikalische Ferne und entspricht damit dem typisch romantischen Variationstypus.

Reineckes acht knapp gehaltene Veränderungen über die Sarabande arbeiten vor allem mit kanonischen und rhythmischen Verschränkungen sowie hoher Energie in Tempo und Dynamik. So drängt schon die ersten Variation erregt nach vorne, die zweite steht bereits im fortissimo, mündet aber sofort in einen neuen Piano-Gedanken mit chromatischer Harmonik. Der wiederum fügt sich in den strengen punktierten Kanon von Variation 4 ein, darauf folgen geisterhaftes Huschen (Var. 5), machtvolles Dahinfließen (Var. 6) und in der 7. Variation schließlich der lyrische Ruhepunkt des Werkes. Die finale Steigerung erreicht Reinecke durch eine groß angelegte Stretta, schließt aber nicht mit wuchtigem Pomp ab, sondern wählt stattdessen ein Ende in verklärter Erinnerung.

Insgesamt sind die Variationen ein gelungenes und reizvolles Werk, das seinen Rang sicher nicht zuletzt aus der großen Zugkraft von Bachs Thema gewinnt. Reinecke erweist sich ein weiteres Mal als Komponist von hoher Qualität, dessen Schaffen gerechterweise in unseren Tagen allmählich wieder Verbreitung und Würdigung erfährt, nachdem er viele Jahrzehnte lang als „Onkel Reinecke“ verharmlost worden war. Der Wahrheit entspricht allerdings, daß er in Beschreibungen seiner Zeitgenossen übereinstimmend als freundlicher und bescheidener Mensch dargestellt wird. So war das Konzept des exzentrisch-romantischen „Originalgenies“ sicher nicht das Seine, eher orientierte er sich am romantischen Klassizismus und am Vorbild Mozart. Seine Musik entführt uns vor allem in angenehme Gefilde, sie erschafft oft sogar eine träumerische Gegenwelt zur Wirklichkeit - was verständlich wird, wenn man Reineckes Biographie kennt, die geprägt war von tiefen seelischen Verletzungen durch die fanatische Erziehung seines überdominanten Vaters. In seinen Erinnerungen schreibt Reinecke: „durch seine Strenge und seine Gepflogenheit, meinen Willen zu brechen, auf daß ich seinen eigenen Willen als den allein gültigen anerkenne, hat er mich für mein ganzes Leben zu einer allzu weichen nachgiebigen Natur gemacht.“

Robert Schumann schätzte den 14 Jahre jüngeren Kollegen sehr und half ihm, sein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten , indem er ihm mit sowohl musikalischen als auch moralischen Ratschlägen zur Seite stand. Besonders hebt Reinecke folgenden Ausspruch Schumanns hervor: „Man muß sich immer die höchsten Aufgaben stellen. Wenn man nicht die höchste Stufe erstrebt, wird man auch die nächst hohe nicht erklimmen; ich selber habe mich früher viel zu sehr in kleiner Münze ausgegeben.“ Daß diese Worte nicht nur so dahingesagt waren, illustrieren in singulärer Weise die Sechs Fugen über den Namen Bach op. 60, das opus magnum in Schumanns Fugenschaffen.

Die intensive Beschäftigung mit Bach und das Komponieren von Fugen durchzogen Schumanns gesamtes Leben – wie übrigens auch sein gesamtes Werk, denn bereits die frühen Klavier-Geniestreiche wie die Kreisleriana, die Symphonischen Etüden oder die C-Dur-Fantasie sind geprägt von einer polyphonen Struktur, die den freien fantastischen Inhalt in eine dichte Form gießt. Genau diese Mischung verleiht Schumanns Musik ihre einmalige Intensität, und umso schwieriger nachvollziehbar ist sein Entschluß, sich ab 1845 vermehrt dem strengen kontrapunktischen Stil zuzuwenden. Die Gründe dafür hat er nie explizit beim Namen genannt, sie dürften aber wahrscheinlich im Bereich der Selbstfindung liegen, denn fugiertes Schreiben repräsentiert die logische Folge von Schumanns gewollter kompositorischer Entwicklung: weg vom Improvisieren am Klavier, hin zur analytisch-intellektuellen Tätigkeit am Schreibtisch. Darüber hinaus schienen Fugen für ihn einen geradezu therapeutischen Effekt zu besitzen. Schon als junger Mann schrieb er in sein Tagebuch: „der Nutzen davon ist groß und wie von einer moralisch-stärkenden Wirkung auf den ganzen Menschen, denn Bach war ein Mann - durch und durch; bei ihm ist nichts Halbes, Krankes, ist Alles wie für ewige Zeiten geschrieben.“ Nach den Nervenzusammenbrüchen und depressiven Phasen des Vorjahres könnte er also durchaus versucht haben, sich mit dieser Arbeit psychisch zu stabilisieren.

Ganz konkret hatten aber die zusätzlichen Möglichkeiten des Pedalflügels Schumanns Kreativität endgültig in die „Fugenpassion“, wie er selbst es nannte, versetzt. Heute so gut wie vergessen, war dieses Instrument Mitte des 19. Jahrhunderts eine interessante Erweiterung des Klaviers, die man sich auch mit wenig Aufwand selber beschaffen konnte: man mietete eine Pedalklaviatur, verband sie mit dem eigenen Instrument (wie die Schumanns es 1845 taten) und erhielt so die spieltechnischen Verhältnisse einer Orgel. Schumann war vom Pedalflügel begeistert; er glaubte, daß er „einen neuen Schwung in die Claviermusik bringen könnte“ und komponierte dafür die Studien op.56, die Skizzen op.58 und als Hauptwerk eben die Sechs Fugen über den Namen Bach.

Deren geistige Verwandtschaft mit der Kunst der Fuge ist unüberhörbar, das Idol Bach steht quasi ständig im Raum. Schumann kopiert ihn aber nicht, er bewegt sich nur sehr konsequent im strengen Stil. Auf einer subtilen Ebene sind typisch Schumannsche Elemente in jeder Fuge vorhanden: etwa die „nach und nach schneller“ - Vorschrift der Nummern 1 und 6, die unnachgiebige motorische Energie von Nummer 2, die Intimität weniger Noten in der dritten, das in voller Fahrt wachsende crescendo der vierten oder der humoreske Charakter der fünften Fuge.

Opus 60 gilt heute als Schumanns einzige (dafür aber extrem selten gespielte) Orgelkomposition, obwohl er es ausdrücklich „für Orgel oder Pianoforte mit Pedal“ betitelte. Die alternative Klaviergestalt, die er so schätzte, war bisher so gut wie nie zu hören, da ein Pedalflügel nur noch in wenigen Museen steht und die Fugen auf dem Konzertflügel von einem Pianisten allein nicht realisierbar sind. An diesem Punkt kam nun unsere eigene Liebe zum vierhändigen Klavier und dessen fast unbegrenzte Fähigkeiten ins Spiel, und wir fragten uns, ob eine pianistische Umsetzung der Fugen vielleicht im Duo gelingen könnte? Ein skizzenhafter prima vista – Durchgang ließ bereits eine andere Klanggestalt ahnen: durchsichtig, sehr beweglich, dynamisch klar konturiert und von einer plastischen Tiefenschärfe, wie sie nur das Klavier bieten kann. Das Projekt war geboren, allerdings sollte uns die Transkription mehrere Monate beschäftigen. Denn um einen guten und transparenten Klavierklang zu erreichen, mussten wir mit Schumanns Material bei aller Behutsamkeit frei umgehen: also Register verändern und den Tonraum erweitern, Stimmen umschichten, um dynamische Entwicklungen deutlich zu machen oder die langen Orgelpunkte, die auf dem Klavier rasch verklingen, durch rhythmisch durchgestufte Figuren ersetzen. Puristen mögen nun die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, doch sind derlei Verfahrensweisen ganz einfach der Anpassung an die Natur des Instruments geschuldet. Präzedenzfälle finden sich viele, am prominentesten Beethovens eigene vierhändige Übertragung der Großen Fuge für Streichquartett.

Wir hoffen jedenfalls, mit der vierhändigen Transkription zur Verbreitung dieses wunderbaren Werkes beitragen zu können, das sehr zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist - obwohl Schumann selbst von dessen Qualität und Erfolgsaussicht eine enorm hohe Meinung hatte4. Offenbar überschätzte er damit das Verlangen der Menschheit nach fugierter Musik, und leicht konsumierbar ist sein Zyklus sicher nicht... Damit nun der individuelle Charakter jeder Fuge bestmöglich zur Geltung kommen kann, haben wir uns nach langer Überlegung dazu entschlossen, diese CD als dramaturgisch konzipiertes Rezital anzulegen und vor jede Schumann-Fuge zwei Moscheles-Präludien zu stellen, zur Ergänzung, Erweiterung und Anregung, als Gegensatz oder unbewußter Kommentar. Wer sich auf unser Experiment nicht einlassen und die Stücke lieber in der originalen Anordnung durchwandern möchte, hat natürlich das Recht, Moscheles' eigene Reihenfolge zu erfahren, die sich aus folgender Tracklist ergibt: 10 – 1 – 4 – 14 – 11 – 2 – 8 – 16 – 5 – 7 – 13.

In welcher Ordnung auch immer: wenn dieses Album, frei nach den Worten seines eigentlichen Protagonisten, eine wohlklingende Harmonie gebe zur Recreation des Gemüths; wenn das Neue daran die Faszination am Alten zu transportieren vermag und dabei einige der „besonderen Lichter und Schatten“ eines anderen Jahrhunderts durchscheinen.. wir wären überglücklich.

Lucia Huang und Sebastian Euler



1 Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker
2 Darauf bezieht Schumann auch seine Wortschöpfung „Bachiana“
3 Aus der 1. Französischen Suite in d-moll BWV 812
4 Auszug aus einem Brief Schumanns an den Verleger Whistling 1846: “Es ist dies eine Arbeit, an der ich das ganze vorige Jahr gearbeitet, um es in etwa des hohen Namens, den es trägt, würdig zu machen, eine Arbeit, von der ich glaube, dass sie meine anderen vielleicht am längsten überleben wird.”